Zwischen Krieg, Widerstand und Revolution: Der Kurdistan 2023 Recap

Für Kurd*innen, die über 4 Ländern im mittleren Osten und in großen Teilen im Exil verteilt sind, vergeht kein Monat, in dem das Volk nicht unter einer weiteren rechtswidrigen Repression, einem weiteren Angriff oder unter einer weiteren Katastrophe steht. Auch in dem Jahr 2023 vollzog sich keine Woche, kein Tag ohne ein Ereignis, was sich klar gegen die grundlegen kurdische Existenzbewahrung richtete und die bereits bestehenden diversen Repressalien intensivierte.

Es wäre eine nicht umsetzbare Aufgabe, alle relevanten Geschehnisse, die sich im Jahr 2023 gegen Kurd*innen richteten, in ihrer Gesamtheit darzustellen. Deshalb werden im Folgenden die wichtigsten und prägnantesten Entwicklungen für jeweils jede kurdische Provinz aufgelistet.

Bakûr & Rojava: Anfang diesen Jahres erschütterten syrisch/türkische Regionen ein Erdbeben, dessen Intensität seit Jahrzehnten nicht so ein Ausmaß genommen hatte. Über 50.000 Menschen starben. Der signifikante Großteil von ihnen Kurden, sowohl in türkischen, als auch in den syrischen Städten. Häuser sind wie Sandburgen eingestürzt, Straßen waren nicht mehr befahrbar. Ein tragischer Zufall? Nein. Die Türkei war schon immer geografisch gelegen ein Erdbebengebiet, weshalb der Regierung bewusst war, welche gravierenden Folgen resultieren werden. Wissenschaftler*innen warnten lange Zeit davor vor dessen Eintritt, mehr als Stille und Akzeptanz kam von der türkischen Regierung nicht. In kurdischen Städten kamen mitten in der eisigen Winterzeit über 48 Stunden lang keine Hilfen, weder Rettungswagen noch die Feuerwehr, noch LKW’s mit Hilfsgütern. Tausende von Menschen und Kindern starben auf diesem Wege unter den Trümmern. Sie schrien ununterbrochen nach Hilfe, Familienmitglieder standen vor den Häusern und konnten nichts tun, außer zu warten. Erneut die Frage: Zufall? Nein.

Heyva Sor ist eine kurdische Hilfsorganisation, die etliche Projekte verfolgt. Sie waren vor Ort und haben mit ihrer minimalen Ausstattung an den Stellen geholfen, wo sie konnten. Gereicht hat es aber nicht. Lastwagen mit Hilfsgütern, die in die kurdischen Provinzen dringlichst reinfahren und zur Hilfe eilten wollten, wurden von türkischen Funktionären auf ihrer Route aufgehalten und daran gehindert, in die Städte reinzufahren. Jegliche legalen oder bürokratischen Gründe gab es hierfür nicht. Zufall? Nein. Es ist mehr als offensichtlich, dass die Türkei jeden Versuch unternahm kurdische Hilfskräfte in ihrem Versuch abzuhalten den Erdbeben-Opfern zur Hilfe zu eilen und das mit dem Wissen, dass Andere türkische Katastrophenschutzorganisationen wie AFAD den kurdischen Städten keine Hilfe zukommen ließ.

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Bild: https://taz.de/Nach-dem-Erdbeben-in-der-Tuerkei/!5911242/

In großen Teilen waren kurdische Städte von dem  Erdbeben betroffen. Bis heute liegen die Städte flach in grauen Trümmern. Obwohl über Nacht über 50.000 Menschen starben, inklusive Kinder, setzte das türkische Regime alles daran, die Schäden in den bereits apokalyptischen Szenen in den kurdischen Gebieten Syriens (Rojava) mittels Drohnenangriffen zu maximieren. Ob das „Versagen“ des türkischen Staates nur eine reine „Organisationsschwäche“ war oder die Menschen absichtlich in den Tod geschickt wurden, sollte hiermit klar sein. Und trotz dieser unbeschreiblichen Menschenwidrigkeit, hörten wir kein Wort an Kritik an die türkische Regierung. Nein, wir mussten uns stattdessen lediglich auf einem repetitivem Laufbandschema anhören, wie kein einziges Mal thematisiert wurde, was für Akte und Reaktionen auf die Erdbeben folgten und wir als Kurd*innen wie immer aus den Debatten komplett ausradiert wurden.

Rojava: Dieser Charakter des türkischen Staates und dem Handeln der internationalen Staatengemeinschaft im Februar zog sich über das ganze Jahr in dem gleichen Schema hin. Pausenlos über fast alle Monate bombardierte das türkische Regime mit einer bewussten strategische niedrigen Intensität punktuell rigoros das ganze Grenzgebiet in Nordsyrien Rojava, erreichte seinen Eskalationspunkt im Oktober im Schatten des Palästina und Israels Konflikts und ermordete mit Luft- und Bodenoffensiven unzählige Zivilist*innen, unter der allbekannten verschwörerischen „Terrorismus-Bekämpfung“ und zielte dabei auf zahllose lebensnotwendige Infrastruktur mit schwerer Artillerie und Drohen. Elektrizitätsspannwerke, Wasserversorgungsanlagen, Weizensilos, um ganz Rojava und dessen 5 Millionen Einwohner*innen von der Wasser- und Energieversorgung abzuschneiden und in eine tiefe humanitäre Krise zu drängen. Keine Einrichtung und kein Zivilist ist nach wie vor, vor dem Drohnenterror sicher: Krankenhäuser, Fabriken, Jugendhäuser, Geflüchteten-Lager, Zivilist*innen und ganze Dörfer lagen unter Beschuss. Insgesamt wurden nach offiziellen Zahlen insgesamt über 580 Luft- und Bodenangriffe durchgeführt, unter Anderem mit der Hilfe von dschihadistischen Proxy-Truppen und Kooperationen der SNA (Syrische Nationalarmee). Es handelte sich um eines der schwersten Flug- und Drohnenangriffe seit langer Zeit. Lediglich ein paar Tage vor der Intensivierung der Angriffe, appellierte am 4.Oktober der türkische Außenminister Hakan Fidan in die Öffentlichkeit in Zukunft „alle Infrastrukturen der PKK und der YPG“ in Syrien und im Irak unter Angriff zu setzen und hielt dabei eine Karte von Rojava in die Kamera. Ziel war die Schwächung und Destabilisierung der AANES, eines der Hauptgründe in diesem Vorgehen, um die Sicherheitskräfte darin zu hindern ihren Aufgaben der Verteidigung nachgehen zu können und den direkt-demokratischen Aufbau vor dem Islamischen Staat und weiteren ähnlichen Akteuren zu schützen. Nach internationalem Recht und Konventionen brach Erdogan über Tage hinweg ein Kriegsverbrechen nach dem Anderen und traf auf nichts Anderes als Stille seitens der internationalen Staatengemeinschaft. Klar ist, dass alle völkerrechtswidrigen Angriffe in Syrien, im Iraq, aber auch in der Türkei durch die Repression der kurdischen Gemeinschaft und linker Oppositionellen mit dem Terrorismusvorwand seit Jahrzehnten aktiv umgesetzt wird.

Bild: https:/klassegenklasse.org

Der ehemals selbst-verwaltete Kanton Efrîn ist seit März 2018 von der Türkei besetzt. Efrîn war einst einer der sichersten Regionen in ganz Syrien. Jetzt stehen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen auf der Tagesordnung. Neben der klassischen Kolonialpolitik steht auch eine Politik der ethnischen Säuberung und einer neuen systematisch- geografischen Bevölkerungszusammensetzung an oberster Stelle. Die kurdische Bevölkerung der einst friedlichsten Region war und ist gezwungen in benachbarte Regionen zu fliehen und leben zur Zeit in Flüchtlingscamps unter stark prekären und verheerenden Bedingungen. Die Besatzung hält seit über 5 Jahren an und zum heutigen Standpunkt wird die Annexion des damaligen kurdischen Selbstverwaltungsgebietes erneut international mit andauernden staatlichen Unterstützungen and die Türkei und dem Erdogan-Regime als NATO-Partner hingenommen. Efrîn war einst zu 90-95% kurdisch und galt bis zur militärischen Invasion als eine der letzten sicheren Zufluchtsorte für Binnenvertriebene aus Syrien, ein Großteil von ihnen (über 300.000 Kurd*innen) musste auf Grund von türkischer Militärgewalt fliehen. Die Realität dieser Kurd*innen war es, aus ihren Häusern herausgezwungen zu werden und auf Grund von Obdachlosigkeit und Angst vor weiteren Repressionen, Entführungen, Mord und Gelderpressungen ihre seit Generationen und Jahrzehnten weitervererbten Eigentümer zu verlassen, indem politisch gezielt Hunderttausende Araber und Turkmenen eingesiedelt wurden. Die verbliebenen Bewohner werden von der SNA, der Türkei und Delegationen aus Qatar unterstützten Dschihadisten-Milizen tagtäglich terrorisiert. In diesem systematischen Vorgang werden Häuser der Kurd*innen zerstört und Siedlungen gebaut, in denen sich die Zugezogenen niederlassen. Auch im Jahr 2023 wurde dieses Projekt auf Hochtouren weiterentwickelt und unter Erdogans Anordnung Tausende von Palästinenser*innen und Araber*innen eingesiedelt, auf die Kosten der indigenen kurdischen Einwohner*innen. Unter ihnen dschihadistische Gruppierungen und Islamisten. Dargestellt wurde dieser Akt als humanitäre Hilfe für Geflüchtete, die Reaktionen waren mit Lob geprägt. Ignoriert wurde das kurdische Leid, ihre Repression, und ihre gewaltsame Vertreibung. Kurdische Provinzen werden immer mehr kolonialisiert, terrorisiert und die Bevölkerung seitens des türkischen Staates und seitens der Zugezogenen auf Höchste konsequenz-los unterdrückt.

Bakûr: Parallel dazu drehte die Türkei weiterhin an ihrer Repressionsschraube. Es wurden weitere Anwälte aus kurdischen Städten, Jugendaktivist*innen, lokale Politiker*innen, Presseleute kurdischer/linker Medieneinrichtungen, Gegenstimmen und vor allem, Politiker aus der pro-kurdischen, geschlechter-egalitären und demokratischen DEM-Partei im Stil von Stürmungen und wellenhaften Massen-Festnahmen verhaftet, um den politischen Vernichtungsfeldzug intensiver fortzuführen. All diese Maßnahmen werden mit der Instrumentalisierung einer „Anti-Terror-Operation“ oder dubiosen Terrorismus Tatvorwürfen umgesetzt. Gegen einen erheblichen Teil dieser Betroffenen wurden Ausreiseverbote und elektronisch überwachte Hausarreste angeordnet. Diese „Terror“ Operationen finden in der Türkei täglich gegen kurdisch-stämmige oder sozial-politisch engagierte Personen statt. Allein dieses Jahr sind nach Angaben der DEM-Partei knapp 3000 Mitglieder lediglich der HDP, DBP, YSP und DEM verhaftet worden, seit 2015 sind es über 23.000 Festnahmen. Es ist für Kurd*innen eine tagtägliche Realität von juristischer Repression und gewalttätigen polizeilichen Razzien unter propagandistischen Vorwürfen.

Rojhelat: Der 16.September symbolisiert einen bahnbrechenden Diskurs für die Feminismus-Späre auf der ganzen Welt. Die 22-jährige Kurdin Jina Amini wurde an diesem Tag vor einem Jahr durch iranische Sittenwächter körperlich bis zu ihrem Tod misshandelt. Grund für das Ende ihres Lebens war, dass sie ihr Kopftuch nicht „gemäß staatlicher Vorschriften“ trug. Jina und ihre Familie stammen aus Saqqez, eine im Westen liegende kurdische Stadt nahe zur Grenze zum Irak. Die Welt kannte Jina doch nur mit ihrem persischen Namen Mahsa, der lediglich auf formalen Staatsdokumenten existiert. Mit einem weit-verbreiteten Kolonialbewusstsein wurden ihre kurdischen Wurzeln und dessen Rolle weggeschert, um die wochenlang andauernden Proteste als rein iranische zu deklarieren. Jinas Wurzeln erzählen jedoch die Geschichte von Tausenden kurdischen Menschen, die in den systematisch vernachlässigten Randbezirken des Irans (Rojhelat) ansässig sind und einem tiefen, gewalttätigen und weit vernetzten Unterdrückungsapparat des iranischen Regimes unterstellt sind. Der autokratische iranische Staat agiert erbarmungslos gegen jede oppositionelle Stimme im Land, Massenverhaftungen und Hinrichtungen von Minderjährigen stehen in diesen Prozessen nicht außen vor. Diese Gefährdung und die Intensität der Angriffe sind um einiges drastischer für Minderheitengruppen und marginalisierte Ethnien wie die Kurd*innen und Frauen.

„Jin Jiyan Azadi“ ist das Leitsymbol der kurdischen Freiheitsbewegung, die die Befreiung der Frau aus ihrer kolonialen Rolle für einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel in den Mittelgrund festigt und es auf radikaler Weise in der Praxis im Beispiel vom direkt demokratischen, geschlechter-egalitären Rojava ausnahmslos umgesetzt wird. In gleicher Weise ist der Kern der Proteste von Kurd*innen im Iran seit jahrzehntelangem Widerstand nach der Revolution im Jahr 1979 die Frauenbefreiung und ihr starker Wille nach feministischen, emanzipatorischen und anti-militanten Freiheitsbestrebungen. Während ca. 85% der Iraner 1979 für das Referendum der Islamischen Republik stimmten, boykottieren es die Kurd*innen aus Rojhelat einstimmig. Der kurdische Boykott des Referendums der Islamischen Republik führte zur Kollektivierung des Regimes und zur Bestrafung und Rache der Kurd*innen in Rojhelat. Der 16.September ist zu einem entscheidenden Tag geworden und ein Moment, in dem, nach den inspirierenden Aufständen der kurdischen Bevölkerung in den Peripheren-Gebieten vom Iran, die Mauer der Angst vor der Brutalität des Regimes einstürzte. Dieser revolutionäre Moment der kurdischen Gemeinschaft wurde in verschiedenen Teilen des Iran und global übertragen. Eine wichtige und beeindruckende Entwicklung, die jedoch den Ursprung der Bewegung von kurdischen und marginalisierten Gruppen im Iran komplett ausradierte. Schlagzeilen wurden mit Jina unter ihrem Zweitnamen „Mahsa“ geschlagen und der kurdische Slogan zu „Zan Zendegi Azadi“ auf persisch übersetzt und als iranische Ideologie vermarktet. Die brutalsten Rückschläge und Angriffe des Regimes auf Proteste beobachteten wir in kurdischen Städten, dessen Alltag ohnehin schon von Militär/- und Staatsgewalt geprägt ist. Seit den intensivierten Widerständen im Jahr 2022 führte das Regime als „Vergeltungsakt“ für die Vorreiterrolle der Kurd*innen der Protestaktionen neue Gesetze für eine systematische Rückentwicklung der Provinzen ein. Diese Politik zielte darauf ab, die bereits stark sozioökonomisch und wirtschaftlich verarmten Menschen in Rojhelat noch weiter in die Misere zu drängen. Auch 2023 als Folgejahr der Proteste erhöhte sich die Militärpräsenz, es kam zu wochenlangen Waldbränden, die vom Staat initiiert wurden, gewalttätige Massenverhaftungen, endlose Hinrichtungen von sogar Minderjährigen, Rechtsentnahmen und weit ausgelegte staatliche Repressionen.

Bild: https://www.al-monitor.com/originals/2023/01/fleeing-repression-irans-kurdish-activists-struggle-find-refuge-iraq

Bashur: Auch in Südkurdistan (Bashur) findet seit mehreren Jahren eine Kampagne des türkischen Geheimdienst MIT gegen kurdische Aktivist*innen statt und arbeitet für dieses Vorgehen eng mit Parastin zusammen, dem Geheimdienst der KDP, der auch dieses Jahr seine Verratslinie mit allen völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei ebenfalls verstärkte, demokratische kurdische Kräfte bewaffnet angriff und türkische Invasionsakte in kurdischen Gebieten unterstützte. Die Beziehung der Barzani-Familie mit dem türkischen Staat sind ein offener Verrat und schenken den türkischen Angriffen großen Erfolg. Die Barzanis sind völlig in die Politik des türkischen Staates mit eingebunden, klar und deutlich wurde das nachdem der türkische Außenminister Hakan Fidan während der intensiven Angriffe auf Rojava nach Südkurdistan einreiste, um mit den Barzanis Gespräche zu führen und gemeinsam zelebrierend gemeinsam einen Kuchen anschnitten. Auch in diesem Jahr hat die PDK wochenlang die kurdische Freiheitsbewegung mehrfach bewaffnet angegriffen und unterstützte mit seinen Truppen die Operation der türkischen Invasion. Die Familiendynastie der KDP verstärkte erneut seine Position als Feind und Kollaborateur gegen die kurdische Freiheitsbewegung mit korrupten Kollaborationsakten in den Angriffen in Silêmanî und Hewlêr innerhalb des eigenes Landes, der sich als Anschlag auf die Vertretung des Nationalkongresses Kurdistan ausdrückte. Es ist eine klare Weiterführung der Geschichte der KDP (Demokratische Partei Kurdistans / Partiya Demokrata Kurdistanê) mit Kollaborationen des Iran und der Türkei eine ständig andauernde Konterrevolution gegen kurdische Organisationen durchzuführen und gemeinsam gegen kurdische Kräfte agieren.

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